IV. Die Anwendung des Konzepts

IV.1. Beschreibung der Einrichtung

Die praktische Umsetzung des Konzepts erfolgte in einem Wohnheim für Geistigbehinderte in einer kreisfreien Stadt in Nordrhein-Westfalen.

Das Wohnheim wird betrieben vom Ortsverein der Lebenshilfe für geistig Behinderte. Die Bundesvereinigung Lebenshilfe für geistig Behinderte e.V. wurde 1958 gegründet von den am meisten von den Problemen geistiger Behinderung Betroffenen: von Fachleuten, Eltern und Freunden Geistigbehinderter. »Aufgaben und Ziele sind u.a. Sicherung aller Menschenrechte für geistig behinderte Menschen, deren Eingliederung in die Gesellschaft, umfassende sozialpolitische Interessenvertretung, Information und Gewinnung der Öffentlichkeit«. (Fachlexikon der sozialen Arbeit 1993, S. 194) Zum speziellen Aufgabenbereich des Wohnheims gehört die Schaffung einer angemessenen Wohnumgebung, wie es dem Grundbedürfnis nach Schutz, Ruhe, Intimität und Geselligkeit entspricht. Weiterhin hat es Maßnahmen der Förderung und Pflege durchzuführen. Ziel der Förderarbeit ist die Ermöglichung von weitgehender Beteiligung am Wohngeschehen und an den häuslichen Verrichtungen und die Vorbereitung auf eine möglichst selbständige Lebensführung. Das spezielle Wohntraining umfaßt kommunikatives und soziales Verhalten, Freizeitgestaltung, Körperpflege, Wäsche- und Zimmerpflege, Hauswirtschaften und Kochen (vgl. Speck 1990).

Die meisten Geistigbehinderten sind aufgrund ihrer relativen Unselbständigkeit nicht in der Lage, alleine zu wohnen oder selbständig einen Haushalt zu führen. Daher benötigen sie auch als Erwachsene betreute Wohnformen. In der Regel wohnen sie bei ihren Eltern. Doch sind diese oft überfordert mit der Betreuung ihres Kindes, zumal sie meist schon in einem Alter sind, in dem sie selbst der Betreuung oder Pflege bedürfen. In diesem Fall bietet ein Wohnheime adäquate Wohnbedingungen, weil sie den besonderen Bedürfnissen Geistigbehinderter entsprechen und eine ganztägige Betreuung von ausgebildeten Kräften sicherstellen. Das Wohnheim zeichnet sich durch Familienähnlichkeit und Gemeindenähe aus. Es sind sowohl intensive Kontakte der Bewohner untereinander als auch zur Nachbarschaft möglich.

Das Wohnheim verfügt über 46 Plätze in 5 Gruppen. In der Regel steht jedem Bewohner ein Einzelzimmer zur Verfügung, das individuell gestaltet werden kann. Die Malaktion fand im Werkraum des Wohnheims statt.

IV.2. Teilnehmer der Projektgruppe

Die Teilnehmer waren dem Gruppenleiter unbekannt. Eine umfangreiche Diagnose der Einzelnen war nicht indiziert, denn es handelte sich nur um ein kurzzeitiges Projekt. Grundlegende Auskunft zu den Teilnehmern und der Schwere ihrer Behinderungen gab die Leiterin des Wohnheims. Weitere relevante Informationen, etwa in bezug auf frühere Erfahrungen mit dem Malen, wurden in der ersten Einheit von den Teilnehmern selbst gegeben und anhand der Beobachtung ihres Verhalten erlangt.

Der Gruppenleiter war institutionsfremd. Dies waren die Teilnehmer jedoch gewohnt bei solchen Angeboten, genauso wie sie gewohnt waren, daß ein Kurs in der Regel nach vier Einheiten wieder endet. Zum sonstigen Kursangebote der Einrichtung gehören Werken und Gestalten, Koch-, Back-, Musik- und Sportkurse.

Die Teilnehmer kannten sich untereinander, da sie ja im gleichen Heim wohnten und tagsüber in einer Werkstatt für Behinderte arbeiteten. Weil sie aber verschiedenen Wohn- oder Arbeitsgruppen angehörten, war diese Bekanntschaft nicht allzu intensiv; sie wohnten zwar unter einem Dach, doch wußten wenig voneinander.

Die Gruppe ist wie im Wohnheim üblich zusammengekommen durch das Bekanntmachen und Anmelden in den einzelnen Wohngruppen. Schriftliche Einladungen erübrigten sich, da die Teilnehmer nicht lesen konnten. Die Bewohner haben sich für die Teilnahme an der Malgruppe freiwillig gemeldet. Sie waren also aus irgendeinem Grund motiviert zum Malen und hatten eine ungefähre Vorstellung von dem, was sie erwarten könnte. Es war ihnen klar, daß eine regelmäßige Teilnahme am Kurs erwünscht war.

Die Teilnehmer im einzelnen:

*) Alle Namen vom Verfasser geändert.

IV.3. Verwendete Materialien

Jeder Teilnehmer erhielt ausreichend Material:

Zum Malen standen flüssige Guache-Farben zur Verfügung. Weil diese aus Farbpigmenten und wasserlöslichen Bindemitteln bestehen, sind sie mit Wasser wieder anlösbar und auswaschbar. Sie sind feiner pigmentiert und reiner als die etwas billigeren Vollton- oder Abtönfarben, so daß sie vielseitig, sowohl deckend als auch lasierend, verwendet und unverfälscht gemischt werden können. Sie sind ergiebig, ungiftig, umweltverträglich und trocknen seidenmatt auf. Als Alternative wurden Näpfe mit fester wasserlöslicher Deckfarbe angeboten; alle Teilnehmer wollten jedoch mit flüssiger Farbe arbeiten.

Die Palette, altes Porzellan, umfaßte für jeden die Primärfarben Rot, Gelb und Blau, sowie Schwarz und Weiß. In der ersten Einheit wurde erläutert, wie die Sekundärfarben Grün, Orange und Violett und sonstigen Farben ermischt werden. Da die Teilnehmer das Mischen schnell beherrschten, wurde in den folgenden Einheiten nur diese Minimalpalette zur Verfügung gestellt, so daß sie größere gestalterische Freiheit genossen.

Als Papier diente weißes, 170 g/m² starkes Offsetpapier im Format DIN A 3, das auch naß noch reißfest ist.

Für jeden Teilnehmer waren Borstenpinsel der Größen 6, 10 und 14 und Haarpinsel der Größen 6, 10 und 12 vorhanden, so daß jeder frei wählen und auch abwechseln konnte.

Weitere Materialien waren Gläser für Wasser zum Verdünnen, Papiertücher zum Reinigen der Pinsel und Kreppklebeband, mit dem das Papier auf dem Tisch befestigt wurde, um dem Verrutschen und Wellen Einhalt zu gebieten.

Jeder Teilnehmer erhielt eine Schürze oder Kittel zum Malen. Beides bot Schutz vor Flecken und stimulierte zusätzlich: Es ließ den Einzelnen in die ungewohnte Rolle des Malers schlüpfen und setzte das Zeichen, daß es jetzt losgeht.

IV.4. Planung, Durchführung und Auswertung der Maßnahme

Die Maßnahme bestand aus einer Sequenz von vier Einheiten. Sie war auf vier Nachmittage festgesetzt, jeweils am gleichen Wochentag von 17.00 bis 19.00 Uhr.

Die Planung der gesamten Maßnahme sah vor, daß die einzelnen Einheiten aufeinander aufbauen. In jeder Maleinheit wurde ein spezielles Ziel verfolgt. Diese Ziele sollten als aufeinander bezogene Arbeitsschritte von Einheit zu Einheit höher gesteckt und anspruchsvoller werden. In kleinen Schritten sollte von den Grundlagen des Malens über das Erlernen des bildnerischen Ausdrucks zu Kommunikation der Teilnehmer untereinander und sozialem Lernen übergegangen werden. Daher wurde die konkrete Planung der jeweils nächsten Einheit erst nach Abschluß und Auswertung der vorangegangenen Einheit vorgenommen. So konnte der Verlauf der Sequenz unmittelbar den Bedürfnissen und Fähigkeiten der Teilnehmer angepaßt werden. Um auch in der jeweiligen Einheit flexibel handeln zu können, wurde für jede Einheit mehr geplant, als letztlich durchgeführt werden konnte. Es gab immer noch ein Alternativprogramm für den Fall, daß Einzelne einfachere oder kleinteiligere Übungen benötigten oder bereits schneller fertig wurden als andere.

Die Teilnehmer sollten weitgehend am Verlauf der Einheiten beteiligt werden. Das Programm wurde jeweils offengehalten für deren Initiative. Zu Beginn einer Einheit wurde gefragt, was diesmal getan werden könnte. Die Teilnehmer fragten allerdings meist nur, welches Motiv sie diesmal malen könnten. Da deren Initiative ausblieb, wurde ihnen das Programm für die Einheit vorgeschlagen, was sie dann auch ohne Einwände akzeptierten.

Die erste Maleinheit diente zweierlei Zwecken:

Zum einen sollte der Gruppenleiter die Teilnehmer kennenlernen, und sie hinsichtlich ihrer Bedürfnisse und Fähigkeiten einschätzen. Und die Teilnehmer, die sich bereits mehr oder weniger flüchtig kannten, sollten untereinander in engeren Kontakt kommen, schließlich galt es, eine Gruppe aufzubauen, in der in nächster Zeit gemeinsam gemalt werden würde und gemeinsame Erfahrungen gemacht werden sollten. Hierzu mußte der Leiter der Gruppe eine anfängliche Struktur geben.

Zum anderen sollte jeder Teilnehmer in dieser Probephase ohne feste Vorgaben Erfahrungen sammeln können im Umgang mit Farbe. Er sollte etwaige Hemmungen mit dem vielleicht ungewohnten Medium abbauen und seinen eigenen Zugang dazu finden oder wiederfinden. Beim Malen sollte jeder seine Aufmerksamkeit und Konzentration auf sich und sein Malen lenken. Die erste Übung sollte so gestellt sein, daß niemand scheitern und jeder rasch persönliche Erfolge erkennen konnte. Als Anregung wurde vorgeschlagen, zu experimentieren und auszuprobieren, was man mit Farben alles machen kann. Alles war erlaubt, es mußte sich nur auf dem eigenen Blatt abspielen. Die Farben sollten den Malenden leiten. Was würde passieren, wenn zwei Farben aufeinandertreffen? Auf spielerisch lustbetonte Weise sollte jeder mit sich selbst kommunizieren, dabei sich selbst erfahren und motiviert werden für weitere Malerfahrungen.

Die Flaschen mit Farbe und Palett-Teller standen auf einem Beistelltisch bereit, so daß sich jeder selbst hätte bedienen können. Aufgrund der zusätzlichen körperlichen Beeinträchtigungen war dies jedoch einigen Teilnehmern versagt, so daß der Gruppenleiter die Malenden mit dem benötigten Material versorgte. Die körperlich weniger Eingeschränkten halfen nach Ansprache dabei. In späteren Einheiten boten sie von sich aus Hilfe an.

Nach der Begrüßung, der Erläuterung der Malaktion und einer kurzen Vorstellungsrunde erhielt jeder ein Blatt, verschiedene Pinsel, ein Wasserglas und eine Palette. Wassily sagte direkt, daß er noch nicht wisse, ob er beim nächsten Mal Zeit beziehungsweise Lust hat. Es wurde ihm freigestellt wiederzukommen, wenn es ihm diesmal gefiel.

Ohne viel zu reden, malte jeder für sich auf das vor ihm auf den Tisch geklebte Papier. Währenddessen fragten einzelne, wie mit dem Material umzugehen sei, wie man etwa Grün ermische. Vincent fragte, ob er auch Weiß nehmen dürfe, und freute sich später, er habe Hellblau gefunden. Bei Wassily dauerte es etwas länger, bis er den Zugang zum Malen fand. Er forderte daher mehr Zuwendung des Gruppenleiters und fragte etwa, was passiert, wenn man Rot mit Gelb mischt. Die Antwort erhielt er, indem er zum Ausprobieren angeregt wurde. Nach einer Weile waren alle in ihre Tätigkeit versunken. Es entstanden überwiegend gegenständliche Bilder.

Käthe malte unter anderem eine Strandszene, die sie im bevorstehenden Urlaub zeigte, Abb. 1:

Abb. 1:  Käthe malte unter anderem eine Strandszene, die sie im bevorstehenden Urlaub zeigte.,

Vincent versuchte sich an einem Blitz. Weil der weißgelbe Blitz auf weißem Grund schlecht zu sehen war, beschloß er, das Gewitter in der Nacht stattfinden zu lassen. Er fügte noch Hagel, Regenschauer und einen gewaltigen Baum hinzu, so daß vom Blitz kaum noch etwas zu erkennen war, Abb. 2:

Vincent versuchte sich an einem Blitz.

Da Wassily sehr langsam und bedächtig an einem sommerlichen Bild malte, Abb. 3:

Da Wassily sehr langsam und bedächtig an einem sommerlichen Bild malte,,

Käthe und Vincent jedoch sehr schnell arbeiteten, bekamen die beiden neue Blätter. Nachdem Wassily und Paula ihr erstes und die anderen ihr drittes Bild vollendet hatten – mittlerweile war mehr als die Hälfte der Einheit vergangen – wurden die Bilder gemeinsam betrachtet. Jeder sollte sein Bild beziehungsweise seine Bilder zeigen und etwas dazu sagen, so er mochte. Der Gruppenleiter stellte wenn nötig behutsam Fragen, etwa, ob es dem Teilnehmer leicht gefallen sei zu malen, womit er begonnen habe, was während des Malens passiert sei, wie sich das Bild entwickelt habe oder wie es ihm jetzt gehe. Die Malenden schilderten ihr Bild und seine Entstehung so ähnlich, wie sie es gemalt hatten: Wassily und Paula eher ruhig, Vincent eher weitschweifig und erregt. Die anderen äußerten sich ebenfalls zum jeweiligen Bild, jedoch meist mit einsilbigen Kommentaren wie »schön«, »gut« oder ähnlichem. Wie das Bild auf sie wirke, sagten sie erst nach der ausdrücklichen Frage danach. Bei diesem Gespräch kam es wie bei allen folgenden oft zum Durcheinander- und Aneinandervorbeireden der Teilnehmer. Austausch in der Gruppe war auch aufgrund von Unaufmerksamkeit oft nicht zu erreichen. Deshalb wurden Gespräche zu zweit angeleitet.

Alle wollten anschließend – mindestens – noch ein weiteres Bild malen und wollten bestätigt haben, daß in der kommenden Woche wieder zusammen gemalt würde.

Jeder erfüllte die Aufgabe des freien Spiels mit den Farben und Formen und erlangte auf experimentelle Weise Zugang zum Medium; alle äußerten sich zufrieden über das Malen und waren motiviert für weitere Einheiten. Es kann nichts darüber gesagt werden, was mit den Teilnehmern geschah während des Malens, weil sie über diese inneren Prozesse wenig Aussagen machten.

Während des Malens konnten die Teilnehmer eigene Entscheidungen treffen: Welche Farbe sie nahmen, wie sie malten oder wann das Bild fertig war.

Zu einer sich zusammengehörig fühlenden Gruppe waren die Malenden noch nicht gewachsen, denn die Kommunikation fand fast ausschließlich mit dem Gruppenleiter statt. Gespräche der Behinderten untereinander waren selten. Jeder war während des Malens mit sich beschäftigt und bekam wenig von den Übrigen mit. Im anschließenden Gespräch kamen sich die Teilnehmer näher, da sie zum Beispiel von Käthes Urlaub am Meer erfuhren oder von Vincents Vorliebe und Begeisterung für Gewitter.

Bei der zweiten Einheit wartete Wassily schon vor der Zeit an der Tür des Werkraums. Diesmal sollten die Teilnehmer mehr miteinander in Kontakt kommen als in der vorherigen. Die frontale Orientierung zum Gruppenleiter sollte einer multilateralen weichen. Daher wurden zu Beginn noch einmal die Bilder der letzten Woche gezeigt; sie sollten von den Teilnehmern den Urhebern zugeordnet werden und so erneut Anlaß zu Gespräch bieten. Die Zuordnung gelang meistens, wenn auch erst nach gemeinsamem Raten. Einzelne konnten sich noch daran erinnern, was der Maler zu seinem Bild erläutert hatte. Es kam allerdings auch zu resignierenden Aussagen wie: »Meine Mama, die kann richtig malen.« Es war den Teilnehmern nicht zu vermitteln, daß es kein richtig oder falsch beim Malen gäbe und daß allein die Leistung der eigenen Gestaltung zähle. Jeder dürfe sein Bild so malen, wie er wolle; für »Bilder wie in echt« gäbe es schließlich Fotoapparate . Wassily wollte wissen, was noch nie zuvor gemalt worden sei, an dem er sich dann versuchen wolle.

Diesmal waren nur drei Malerkittel vorhanden. Jeder sagte, er wolle auf jeden Fall einen haben. Die Lösung zu dem Problem brachte Käthe, indem sie sagte, sie wolle keinen.

Die Teilnehmer wurden wie vor jeder Einheit gefragt, ob sie heute etwas bestimmtes machen wollten; von ihnen kamen aber keine Vorschläge, deshalb schlug der Gruppenleiter vor, was er geplant hatte: Da die erste Einheit von allen erfolgreich bewältigt worden war, konnte zu einer variierten Übung übergegangen werden. Sie wurde als Experiment angekündigt und von den Teilnehmern anfangs noch skeptisch betrachtet: Beim Malen nach Musik sollten die Teilnehmer Malen, was ihnen beim Hören in den Sinn kam. Thematische Vorgaben gab es keine; die Musik sollte durch ihr zusätzliches Aufforderungspotential auf dem auditiven und kinästhetischen Kanal weitere, innere Bereiche der Person öffnen und Gelegenheit bieten, tiefergehende Gefühle auszudrücken.

Das erste Stück war »Die Moldau« von Bedrich Smetana, das zuerst gehört wurde ohne zu malen und dann während des Malens zweimal wiederholt wurde. Als zweites Musikstück wurde »Slowdance« von Anthony Phillips, Gitarrenspiel mit meditativem Charakter, abgespielt.

Trotz anfänglicher Skepsis begannen alle sofort nach dem Einsetzen der Musik zu malen. Für jeden stand anscheinend fest, was er zu malen gedachte. Wassily malte angeregt von der »Moldau« bedächtig eine Szene mit dem Papst, der zu der Zeit in Deutschland weilte, Abb. 4:

Wassily malte angeregt von der »Moldau« bedächtig eine Szene mit dem Papst, der zu der Zeit in Deutschland weilte.

Käthe übertrug die musikalischen Formen in bildnerische: Sie schwang fröhlich den Pinsel wie ein Dirigent in der Luft, sagte »die Musik ist so« und setzte die Bewegungen auf dem Blatt fort, Abb. 5:

Sie schwang fröhlich den Pinsel wie ein Dirigent in der Luft, sagte »die Musik ist so« und setzte die Bewegungen auf dem Blatt fort.

Anschließend malte sie »Tupfer wie die Musik, gerade und schräg«. Paula erinnerte die Musik an eine Blumenwiese, Abb. 6:

Paula erinnerte die Musik an eine Blumenwiese.,

Vincent an seine Jugend in der Schweiz, was er oftmals verkündete. Nachdem einige bereits fertig waren, regte der Gruppenleiter an, doch einmal umherzugehen und zu schauen, was die anderen wohl malten. In der anschließenden Gesprächsrunde erläuterten sie wieder ihre Bilder. Vincents Bild sorgte für Irritation: Wie er schon während des Malens mehrmals sagte, sei dies »Savigny, das ist in der Schweiz am Genfer See«, Abb. 7:

Wie er schon während des Malens mehrmals sagte, sei dies »Savigny, das ist in der Schweiz am Genfer See«.

Wassily fragte verwundert: »So sieht es in der Schweiz aus?« Auch die anderen beteiligten sich am Disput: »Ja, da sind die Berge und da das Wasser.« Wassily erklärte sich das Bild dann mit einer eigenen Definition: »Das ist bestimmt abstrakte Kunst: Man kann nix erkennen, sieht aber gut aus.« Anschließend ergab sich ein Gespräch über Orte in der Ferne, an denen die Teilnehmer schon einmal waren. Bis auf Wassily, dem es gleich war, bewerteten es alle positiv, daß beim Malen Musik spielte.

Unterstützt von Musik gelang es den Teilnehmern leichter, sich mit Farben auszudrücken. Die Musik weckte Assoziationen und Erinnerungen und ermöglichte den Ausdruck von Emotionen, anhand derer sich interpersonelle Kommunikation entwickelte.

In der dritten Einheit hatte sich bereits Gruppengefühl ausgeprägt, denn als der Gruppenleiter anfangen wollte, wiederum die Bilder der vergangenen Woche zu zeigen, wurde er von den übrigen Teilnehmern darauf hingewiesen, daß er noch auf die abwesende Paula zu warten habe. Ein nicht zur Gruppe Gehörender wurde von den Teilnehmern freundlich, aber bestimmt weggeschickt.

Diesmal sollten sich die Teilnehmer noch intensiver mit sich und der Gruppe auseinandersetzen. Die Gruppenprozesse sollten weiter in Gang kommen und die Aufmerksamkeit nicht mehr so sehr auf dem Gruppenleiter liegen. Ziel war die Selbst- und die Fremdwahrnehmung in der Gruppe. Als thematische Vorgabe wurde die Aufgabe gestellt, jemanden nach Wahl aus der Gruppe zu malen. Allenthalben herrschte daraufhin Zweifel und Resignation: »Das kann ich nicht.« Es stellte sich jedoch heraus, daß alle dies sehr wohl konnten. Es blieb freigestellt, wer oder wieviele aus der Gruppe zu malen war. Nach anfänglichem Zögern begeisterten sie sich an der Idee, jemanden malen zu dürfen, dem ihre Sympathie galt.

Während des Malens streifte Käthe mit ihrem Pinsel Paulas Hand. Diese fand daraufhin Gefallen daran, nicht nur Käthe zu malen, sondern auch zu bemalen: »Guckt mal, jetzt bepinsel ich die Käthe« Käthe erwiderte freudig diese Attacke; der Abtausch dauerte, bis sie sich gegenseitig die gesamten Hände und Unterarme bemalt hatten. Daraufhin kamen beide auf die Idee, ihre farbig-feuchten Hände als Stempel aufs Papier zu drücken und auszugestalten. Vincent malte indes Paula. Er begann mit ihrem Kopf und Körper, befand dann, es müsse auch noch etwas in den Hintergrund und gab sich mit Hingabe daran, den freien Teil des Blattes mit einer pastosen Winterlandschaft zu füllen. Als er Paula auf sein Bild von ihr aufmerksam machte, konnte diese sich nicht entdecken: Paula war im Wintersturm verschwunden. Notdürftig und anscheinend widerwillig malte er wieder eine Gestalt über sein Winterbild, so daß Paula zufrieden war, Abb.8:

Notdürftig und anscheinend widerwillig malte er wieder eine Gestalt über sein Winterbild, so daß Paula zufrieden war.

Wassily hatte sich vorgenommen, Vincent und den Gruppenleiter zu malen. Voll Stolz zeigte er Vincent sein Werk. Der freute sich über die Ansprache und bemerkte begeistert: »Sehr schön. Wer ist das?« Wassily war enttäuscht, daß Vincent die Dargestellten nicht erkannt hat, wo er doch selbst abgebildet war. Doch Vincent ließ sich nicht erweichen; er war nicht einverstanden damit, daß er das sein sollte. Die beiden einigten sich nach kurzer Diskussion schließlich darauf, daß es aufgrund der Ähnlichkeit Hartmut und Willi aus der Werkstatt sein müßten, Abb. 9:

Die beiden einigten sich nach kurzer Diskussion schließlich darauf, daß es aufgrund der Ähnlichkeit Hartmut und Willi aus der Werkstatt sein müßten.

Das Ziel, die Teilnehmer näher aneinander zu bringen und die Gruppenprozesse anzutreiben, wurde erfüllt. Der Gruppenleiter trat wiederum mehr in den Hintergrund und war vor allem zuständig für die Materialbeschaffung und die Gesprächsführung.

Als Höhepunkt der Sequenz sollte in der vierten Einheit paarweise an einem Bild gemalt werden. Die Teilnehmer kannten sich mittlerweile und waren mit dem Malen vertraut. Bei dieser direkten Konfrontation sollte wenig bis gar nicht gesprochen werden, um völlig auf nonverbale Weise kommunizieren zu können. Die Teilnehmer sollten ganz direkt soziales Agieren beim Malen erfahren und daraus Rückschlüsse ziehen. Sie sollten Gelegenheit erhalten, partnerschaftlich zu handeln und dabei erkennen, daß es nötig ist, auf den Partner einzugehen ohne die eigenen Wünsche zu sehr zurückzudrängen. Dies war eine neue Situation: Daß jeder sein eigenes Bild malt, waren sie gewohnt, doch daß da plötzlich noch jemand auf dem gleichen Blatt zugange sein sollte, war eine neue Erfahrung. Der als Experiment angekündigte Vorschlag wurde jedoch sofort angenommen. Die Paarbildung verlief ebenfalls ohne Schwierigkeiten: Vincent wollte unbedingt mit Wassily, Paula mit Käthe zusammen malen.

Vincent und Wassily saßen sich gegenüber. Vincent begann, an seinem Rand eine rosa Fläche zu malen. Wassily fragte, ob das eine Wiese sei, und malte an seinem Rand Wolken. Dann malte er in die Mitte der Landschaft einen Elefanten, und zwar aus seiner Sicht auf dem Kopf stehend, Abb. 10:

Dann malte er in die Mitte der Landschaft einen Elefanten, und zwar aus seiner Sicht auf dem Kopf stehend.

Beim anschließenden Gespräch sagte er, daß es für ihn selbstverständlich war, daß der Elefant auf dem Boden zu stehen komme. Er fand es zwar schwierig, das Tier verkehrtherum malen zu müssen, war aber der inneren Stimmigkeit zuliebe dazu bereit. Schließlich hatte Vincent ja da schon die Wiese und den Baum gemalt; dessen Farbgebung behagte ihm allerdings auch nicht. Außerdem plagte ihn die Vorstellung, Vincent könnte über den Elefanten malen. Vincent hingegen war völlig zufrieden mit dem Bild. Daß Wassily Schwierigkeiten beim Malen hatte, sah er nicht ein; schließlich stand für ihn der Elefant ja richtig herum auf der Wiese.

Käthe und Paula begannen auf ihrem Bild ungegenständlich zu malen. Sie ergänzten sich mit farbigen Strichen und Punkten zu einem Muster. Später fügten sie auch noch Gegenstände ein, die bei der Auswertung erläutert wurden.

Zu Beginn des zweiten Bildes erlitt Paula einen heftigen epileptischen Anfall; das Malen wurde unterbrochen. Nachdem der Anfall abgeklungen war und sie sich etwas erholt hatte, wurde sie von Betreuern des Wohnheims zum Ausruhen auf ihr Zimmer gebracht. Der Vorfall wurde von den übrigen gelassen aufgenommen. Das sei normal und passiere häufiger, hieß es.

Nun stellte sich die Frage, ob die Malaktion auch ohne Paula fortgeführt werden sollte. Nachdem die generelle Bereitschaft abgeklärt war – schließlich ginge es der Paula ja wieder gut, sie sei nur müde -, mußte entschieden werden, wie denn weitergemalt würde. Es hob eine Diskussion an, ob man denn zu dritt an einem Bild malen könne. Doch Wassily hatte Bedenken. Er bot an, alleine zu malen, damit Käthe und Vincent als Paar arbeiten könnten. Später sagte er, daß er lieber für sich malt, denn dann müsse er nicht immer auf dem Kopf malen.

Käthe und Vincent malten eine Landschaft mit einer riesigen roten Sonne, Abb. 11:

Käthe und Vincent malten eine Landschaft mit einer riesigen roten Sonne.

Daher ergab sich das Problem gar nicht, daß einer auf dem Kopf malen mußte, wie Käthe anschließend befand.

Das anspruchsvolle Ziel des sozialen Lernens wurde nur bedingt erfüllt. Wassily sah in der gemeinsamen Arbeit nur Nachteile, er mußte sich ständig anpassen. Vincent hingegen bemerkte gar nicht so sehr den Unterschied zum Alleinemalen, denn er sagte, er habe zu zweit genauso gemalt wie allein. Die beiden Frauen haben sich auf ihrem Bild miteinander auseinandergesetzt und arrangiert. Sie sagten beide, daß jeder seinen Platz brauche.

Auch an der Störung durch den Anfall konnte gelernt werden: Die Teilnehmer akzeptierten, daß schon mal jemand nicht mitmachen kann. Das ginge wohl jedem von ihnen manchmal so.

Da diese Einheit die letzte der Sequenz war, wurde sich ausführlich verabschiedet. Jeder bekam eine Sammelmappe mit den von ihm gefertigten Bildern ausgehändigt.

 

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